Auszug aus:
Hallgren, Anders
„Lehrbuch der Hundesprache. Mit dem Hund auf Du und Du“
Oertel + Spörer, 4. Auflage, 2001
Eine der vornehmsten Aufgaben der Hundesprache ist es, Aggression zu kontrollieren und zu kanalisieren. Dies ist notwendig, weil der Hund ein Rudeltier ist und gleichzeitig mit kräftigen Kiefern und scharfen Zähnen ausgestattet ist. Es soll verhindert werden, dass sie einander mit voller Stärke angreifen. Um jeden Preis soll verhindert werden, dass ein Individuum des Rudels verletzt wird. … Es gibt viele Faktoren, die mit der Sprache zusammenarbeiten, um zu verhindern, dass die Mitglieder der Meute die Kraft ihrer Kiefer gegeneinander verwenden. Die wichtigsten sind die Beißhemmung und die Rangverhältnisse.
Beißhemmung
Gerade weil die Hunde so effektive Waffen wie ihre Zähne haben und gleichzeitig in Rudeln leben, sind sie blockiert, sich gegenseitig in voller Stärke zu beißen. Selbst wenn Hunde richtig wütend aufeinander sind, entstehen bei einer Beißerei selten schwere Verletzungen. Es ist, als ob ein geistiger Mechanismus sie daran hindere, sich mit voller Stärke zu beißen, die sog. „Beißhemmung“.
Ein Hund hat viele hundert Kilogramm Druck auf jeder Zahnspitze. Er kann deshalb ein Beutetier töten, das vielleicht viel größer als er selbst ist. Wenn Hunde bei Streitereien diese Kraft jedes Mal ungehemmt gebrauchten, würden sie sich am laufenden Band totbeissen.
Die Beißhemmung scheint wirklich gut zu funktionieren. Es ist selten, dass bei einem Kampf großer Schaden entsteht. Aber es gibt auch Hunde, bei denen die Beißhemmung schlecht funktioniert. Dann wird der Gegner schwer verletzt.
Die Beißhemmung des Hundes funktioniert auch gegenüber dem Menschen. Ein Hundebiss führt auch hier selten zu großen Schäden. Hunde, die gegenüber Menschen aggressiv sind, haben oft einen unverdient schlechten Ruf, dass sie gefährlich seien. Viele sagen dann, dass ein solcher Hund getötet werden müsste, bevor er „etwas richtig Schlimmes“ anrichte. Es ist aber eine Seltenheit, dass ein Hund richtig zubeißt. Wenn die Beißhemmung funktioniert, was sie fast immer tut, ist ein Hundebiss zwar sehr schmerzhaft, aber die bevorzugte Taktik der Hunde ist es ja, zu erschrecken und nicht zu schaden. Dies gilt auch gegenüber dem Menschen. Wenn ein Hund dagegen so zubeißt, dass starke Verletzungen ent¬stehen, dann muss man vorsichtig sein. Dies kann tatsächlich ein Zeichen dafür sein, dass die Beißhemmung des Hundes defekt ist.
Schmerzzustände aufgrund einer Erkrankung oder einer Verletzung können dafür verantwortlich sein, dass die Beißhemmung schlecht funktioniert. Man kann auch nicht ausschließen, dass aufgrund einer schlecht geplanten Zucht dieser Fehler auftritt. Ich habe stark ingezüchtete Hunde gesehen, die mit ganzer Kraft zubissen und große Schäden verursachten …
Rangordnung
Ein anderer Faktor, der die Aggression kontrolliert und steuert, sind die Rangverhältnisse zwischen den Individuen einer Gruppe. Man vermutet, dass es innerhalb desselben Rudels verschiedene Rangordnungen gibt. Eine zwischen den erwachsenen Rüden, eine zwischen den erwachsenen Hündinnen, eine zwischen den Jungtieren und eine zwischen den Welpen.
Bis jetzt war man der Auffassung, dass ein dominantes Tier die Untergeordneten dank seiner Rangposition ohne aggressive Proteste steuern könne. Es brauche seinen Willen nicht mit Bissen durchzusetzen. Aber diese Form der Rangordnung, die wir früher lernten, wurde kritisiert und bezweifelt. Wir lernten, dass die Hunde eine Rangordnung haben, die nach demselben Muster abläuft wie die „Hackordnung“ bei Hühnern. Bei denen wurde nämlich beobachtet, dass das Huhn, das an der höchsten Stelle der Gruppe stand, alle anderen hacken konnte, ohne dass es selbst gehackt wurde. Das zweite Huhn der Gruppe hackte alle außer dem höherstehenden Huhn und so weiter.
Man hat nun begonnen, diese Ansicht in Frage zu stellen und zu ändern. Es entwickelte sich eine neue Meinung über die Begriffe Dominanz und Rangordnung. Früher war es wichtig, dass wir über unsere Hunde bestimmten, unsere Autorität erhielten, „Rudelführer“ waren. Man wollte den Hunden keine Opposition erlauben, weil sie sonst die „Macht übernehmen“, das „Kommando übernehmen“, „ihre Rangposition verbessern“ konnten. Die modernen Ansichten der Ethologen setzen all dies in Frage.
Ja, wie ist es denn nun? Soll man streng und bestimmt in seiner Forderung oder soll man milde sein? Es zeigt sich, dass diejenigen, die die weichere Erziehung propagieren, die größere Unterstützung durch die neueren Forschungsergebnisse und Entwicklungen erhalten, die bei wilden Hunden gemacht worden sind.
Verschiedene neue Beobachtungen von Wölfen und anderen Vertretern der Hundefamilien zeigten, dass es sowohl eine „weichere“ als auch eine „strengere“ Erziehung der Welpen und Jungtiere gibt. Wobei der Schwerpunkt eindeutig beim milderen Typ liegt. Dies gilt selbst für das Verhältnis zwischen erwachsenen Tieren. Viele, die Wölfe untersucht haben, heben gerade diesen liebevollen Zusammenhalt des Rudels hervor. Es sieht so aus, als sei das Verhältnis zueinander eher auf Liebe als und Zärtlichkeit begründet als auf Disziplin und Rangstatus.
Bei einer von mir durchgeführten Untersuchung über die Dominanz der Hündin über ihre Welpen in den ersten acht Wochen ihres Lebens wurde das liebevolle Muster bei der Erziehung deutlich (Hallgren, 1988).
Ich fragte 149 Züchter, wie oft sie verschiedene Grade von Dominanz und autoritärem Verhalten der Hündin gegenüber ihren Welpen beobachtet hätten und wie die Hündin sich während der Aufzucht gegenüber ihren Welpen verhalten habe:
Auf die Frage, wie oft die Züchter gehört hätten, dass die Hündin ihre Welpen anknurrte, antworteten 30,8% nie, 53,8% nur wenige Male (oft spielerisch), 15,4% oft.
Auf die Frage, wie oft sie gesehen hätten, dass die Hündin gegenüber den Welpen die Zähne gefletscht habe, antworteten 64,3% nie, 31,5% wenige Male, 4,2% oft.
Auf die Frage, wie oft sie gesehen hätten, dass die Hündin einen Welpen am Nackenfell schüttelte, antworteten 78,3% nie, 18,9% einige Male (oft im Spiel), 2,8% oft (häufig im Spiel).
Es war ferner charakteristisch, dass diese Verhaltensformen gegenüber kleinen Welpen nicht gezeigt wurden, sondern erst, wenn sie sich der achten Woche näherten, wenn sie fordernd wurden und gleichzeitig von der Mutter abgewöhnt wurden.
Auf die Frage, wie eine Hündin über ihre Welpen dominiert, antworteten 91,6% spielend und zärtlich, 3,5% dominiert überhaupt keine Welpen, 2,8% drohen, schnappen oder beißen die Welpen.
Der strafende Mensch
Wir Menschen sind dem Nachdenken über Strafen eng verbunden. Die häufigsten Ratschläge, die bei der Hundeerziehung gegeben werden, behandeln die Möglichkeiten, den Hund zu bestrafen. Viel weniger wird über die Möglichkeit der Belohnung gesprochen. Deshalb haben wir auch ungefähr 40 verschiedene Arten der Bestrafung und nur ganz wenige Formen der Belohnung und der Aufmunterung.
Strafen werden etwas von der Mode geprägt. Vor 30 Jahren sollte man den Hund gewöhnlich mit der „Hundepeitsche“ schlagen. Viele Hundeleinen konnten gleichzeitig als Peitschen verwendet werden. Das wurde dann vom „korrigierenden“ Ruck an der Leine abgelöst.
Danach kamen die etwas „naturnäheren“ Abstrafungen, oft mit der Begründung, dass die Hunde sich untereinander auch so behandelten. Speziell die Hundemutter wurde belastet, man begründete die Strafe damit, dies sei „wie bei Mutter“.
Konrad Lorenz empfahl in den fünfziger Jahren, man solle Welpen und sogar erwachsene Hunde an der Nackenhaut schütteln. Das hatte er bei Hundemüttern beobachtet, die ihr ungehorsamen Welpen dadurch bestraften. Aber diese Art von Strafe ist bei Hündinnen nicht so alltäglich, selbst wenn es vorkommen kann. Das zeigt die von mir gerade zitierte Untersuchung.
Das nächste war, den Hund über die Schnauze oder in das Ohr zu beißen. Dies wurde von Beobachtungen abgeleitet, bei denen festgestellt wurde, dass dies erwachsene Hunde tun, wenn sie wütend aufeinander sind. Ganz gewiss kommt es vor, aber es ist nicht besonders häufig verbreitet. Es gibt Leute, die angeben, dass das Über-die-Schnauze-Beißen rassebedingt sei. …
Später, gegen Ende der 70ger Jahre, kam der Rat auf, dem Hund die Ohren zu verdrehen, wenn er et-was falsch machte. Dieser Tipp gewann schnell Gehör. Man wies darauf hin, dass Hündinnen es ebenfalls täten. Das ist jedoch eine Methode, die ich absolut nicht empfehlen kann. Teils, weil es in Wirk-lichkeit sehr selten ist, dass die Hündin ihre Welpen an den Ohren fasst, teils, weil es auch direkt schaden kann. Die vorher schon zitierte Untersuchung ergab folgendes:
Wie oft haben Sie gesehen, dass eine Hündin einen Welpen in das Ohr gebissen hat“ 79,7% nie, 18,9% einige Male (oft im Spiel), 14,% oft.
In jedem Fall ist es bis zur 9. Woche selten, dass die Hündin die Ohren ihres Welpen zum Zwecke der Erziehung zwickt.
Des weiteren kann es auch schädlich sein, da ein Risiko besteht, tiefer im Ohr gelegene Bereiche durch übermäßige Belastung zu schädigen. Ich möchte davor warnen, diese Methode gegenüber Welpen zu gebrauchen, gerade aufgrund der möglichen Schädigung des Ohres. Man kann das Ohr als weniger schmerzempfindlich ansehen, aber das ist keine Garantie dafür, dass es nicht geschädigt wird. …
Missverstandene Dominanz
Nach meiner Auffassung liegt das Problem der Dominanz gegenüber Untergebenen an einer ganz anderen Stelle. An einem Tag, schon vor vielen Jahren, ist mir dies aufgefallen, als ich einen erwachsenen Hund beim Spiel mit einem Welpen beobachtete. Das Spiel beinhaltete einen gewissen „dominanten“ Einschlag. Der Welpe wurde nicht im geringsten ängstlich und seitens des Erwachsenen wurde keine Aggression in das Spiel eingebracht. Trotzdem konnte er ausreichend demonstrieren, wer hier bestimmte – auf eine nette und freundliche Art. In meinen Gedanken tauchte plötzlich ein Begriff auf, den ich nicht mehr vergessen konnte: die nette Führung, die freundliche Dominanz.
Vielleicht haben wir Menschen es ganz einfach missverstanden, was Tiere mit Dominanz meinen. Wir definieren Dominanz als etwas Strenges und Autoritäres, nur weil wir selbst zu dieser Ansicht neigen. Wir glauben, dass Dominanz und Aggression im Großen und Ganzen das Gleiche seien. Wir glauben, dass das in der sozialen Rangfolge hoch platzierte Tier auch das aggressivere sei. Aber es ist genau umgekehrt.
Ein interessantes Forschungsergebnis
Der amerikanische Forscher Randall Lockwood führt eine sehr aufschlussreiche Untersuchung bei Wölfen durch. Er bemerkte, dass das Ergebnis einer Prügelei eine schlechte Möglichkeit ist, die Rangordnung zu bestimmen. Handlungen, die auf Uneinigkeit beruhen, sind selten Rangkonflikte. Man kann sagen, dass unsere Ansicht, dass „sie sich schlagen, um herauszufinden, wer bestimmt“, nicht korrekt ist. Es geht nicht um die Rangordnung, wenn sich Hunde prügeln. Für sie ist es überhaupt nicht sicher, dass derjenige, der gewinnt, auch der ist, der bestimmt und den höheren Rang hat. Er wies darauf hin, dass Beobachtungen sowohl bei Wölfen als auch bei Affen zeigten, dass es oft die Untergeordneten (tiefer im Rang stehenden) sind, die aggressives Verhalten zeigen. Die Ranghöheren werden selten wütend.
Ich selbst bin vielen Hunden in meinem Leben begegnet. Ich sah sie sowohl beim Spiel, bei Beißereien als auch miteinander auf ruhige Art umgehen, und ich konnte feststellen: Es sind die Selbstsichersten, die Ranghöchsten, die Dominantesten, die sich am wenigsten prügeln.
Es sind gerade die Unsichersten, die am meisten Aggressivität zeigen!
Eine neue Bedeutung der Dominanz
Da die allgemeine Auffassung darüber, was das Wort Dominanz eigentlich bedeutet, nicht mit der Meinung, die die Hunde hierüber haben, übereinstimmt, ging ich seit Mitte der 70ger Jahre dazu über, statt dessen von der Führerschaft zu reden. Ich entwickelte den Begriff der „freundlichen Führerschaft“. Die Idee war, dass wir Menschen versuchen sollten, auf eine freundliche Art zu bestimmen. Wie dies Hunde untereinander tun. Ältere Hunde bestimmen über jüngere allein mit der Kraft ihrer Sicherheit und ihres Alters. Auseinandersetzungen können durch ein bestimmtes kleines Spiel geregelt werden, oder ein Älterer ignoriert die Provokation zu einer Beißerei durch einen Jüngeren völlig. Derjenige, der am besten seine Ruhe und Würde bewahrt, ist letztlich der „Ranghöchste“.
Sollen wir keine Führer sein?
Sollen wir denn nicht über unsere Hunde bestimmen? Doch, es ist selbstverständlich, dass wir bestimmen sollen, was er tun soll oder nicht tun soll, oder wir können sie nicht halten. Es gibt viele Dinge, die ein Hund nicht tun soll, um in unsere Familie und Gesellschaft zu passen. Er darf keine Leute oder andere Tiere beißen, er darf nicht streunen, nicht an Leuten, denen man begegnet, hochspringen. … Es ist notwendig, dass wir die Rolle als Führer für unsere Hunde übernehmen.
Aufgrund der unglücklichen Bedeutung, die das Wort Dominanz bekommen hat, glauben viele, dass man als Führer streng gegen seinen Hund sein soll. Aber genau das ist ein richtiger Führer eben nicht. Je mehr man an der Leine ruckt, schreit, kommandiert und auf autoritäre Art mit dem Hund herumhunzt, desto weniger ist man sein Führer. Es ist ja gerade der Unsichere, der in einem Wolfsrudel oder in einer Hundemeute oft seine Aggression zeigt. Der Sichere zeigt seine Autorität selten auf diese Art.
Führerschaft wird, wie es scheint, vor allem durch Selbstsicherheit aufgebaut und am wenigsten durch Aggression. Mehr durch Vertrauen als durch Respekt.
Dem Hund die Leviten lesen
Freundliche Führung drückt sich in der Praxis dadurch aus, dass man z. B. seinem Hund die „Leviten liest“. In einer weichen und freundlichen Art nämlich. Leider gibt es Menschen, die auch das missver-standen haben. Sie packen den Hund am Fell, stieren ihm drohend in die Augen, schütteln ihn und schreien aufgeregt.
Nein, so darf man es gerade nicht machen. Man nimmt seinen Kopf leicht in beide Hände, probiert Au-genkontakt mit ihm aufzunehmen, ohne ihm dabei jedoch aufgeregt in die Augen zu starren, und sagt ihm auf freundliche Art, was man von seinem Verhalten denkt. Gerne kann ihm am Schluss auch ein Kuss auf die Nase gegeben werden.
Diejenigen, die es auf die richtige Art und Weise machen, können erleben, wie gut der Hund sie versteht und freudig gehorcht. Natürlich gibt es auch Hunde, die nicht auf das „Leviten lesen“ reagieren. Etwas anderes wäre auch unnatürlich, da Hunde so verschieden sind.